Harald Walach
Die Debatte um die Homöopathie wird ja immer um die Frage geführt: Zeigen wissenschaftliche Studien, dass die Homöopathie Placebo ist oder nicht? Dann kommen die einen und sagen: es gibt genug Studien, auch gute, die zeigen, dass Homöopathie von Placebo zu unterscheiden ist; u.a. auch ich in meinem letzten Blog-Blogbeitrag (www.homöopathie-forschung.info/EASAC). Und die Gegenseite sagt: es gibt keine Studien, die das beweisen (fast alle Kritiker und der wissenschaftliche Mainstream). Ich habe vor Zeiten schon (http://harald-walach.de/methodenlehre-fuer-anfaenger/vom-verhaeltnis-zwischen-empirie-und-theorie-1/) darauf hingewiesen, dass empirische Daten nie naiv interpretiert werden, sondern immer auf dem Hintergrund der vorhandenen Welterfahrung, eigener und bekannter Daten und Theorien, kurzum auf dem Hintergrund von Ausgangswahrscheinlichkeiten, mit denen man bestimmte Dinge erwartet oder nicht erwartet. Die Ausgangswahrscheinlichkeit, zum Beispiel, dass ein rosarotes Einhorn vor meiner Tür steht, wenn ich den Postboten erwarte, ist praktisch gleich Null. Deswegen werde ich auch nicht glauben, dass ein rosarotes Einhorn dort steht, wenn es läutet, ich in der Gegensprechanlage nach dem Begehr frage und zur Antwort bekommen „Guten Morgen, hier ist heute zur Abwechslung das rosarote Einhorn“. Eher denke ich, der Postbote hat sich im Kalender vertan und kommt mit Faschingsverkleidung, oder irgend so was.
Die Bedeutung der Ausgangswahrscheinlichkeiten und Pfarrer Bayes
So ähnlich ist es mit der Homöopathie auch. Je nachdem, welche Hintergrundtheorie der Welt wir haben, bewerten wir Informationen über die Homöopathie unterschiedlich. Wenn wir ein festgezimmertes Gebäude über die Welt haben, in dem nur materielle Wirkungen vorkommen und nur Moleküle etwas im Körper bewegen können, und auch geistige Wirkungen, z.B. unseres Willens, nur über materielle Prozesse, etwa Neuronenentladungen, verstehbar sind, dann wird uns die Homöopathie so unmöglich vorkommen, dass wir ein empirisches Ergebnis mit äußerster Sicherheit und großer statistischer Signifikanz oder Unwahrscheinlichkeit, und davon gleich mehrere brauchen, bevor wir bereit sind an unserem Glauben zu rütteln. Umgekehrt wird einem Arzt, der schon viele Heilungen gesehen hat oder einer Mutter, die Wirkungen an ihren Kindern kennt ein bisschen Empirie reichen, um zu der Ansicht zu gelangen, Homöopathie sei wissenschaftlich bewiesen.
Der irische Pfarrer Thomas Bayes (1702-1761) https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Bayes hat diesen Sachverhalt seinerzeit formalisiert. Etwas eingedeutscht lautet seine Einsicht: Wir beurteilen empirische Ergebnisse immer auf dem Hintergrund dessen was wir erwarten, den sogenannten Bayesschen „prior probabilities“, was man mit Ausgangswahrscheinlichkeit wiedergeben kann. Je nachdem, wie hoch diese sind, genügen wenige empirische Ergebnisse, um diese in virtuelle Sicherheit zu überführen oder benötigen wir sehr viele, um sie überhaupt zu verändern. Genau diese Situation liegt bei der Homöopathie vor. Man kann sich das Ganze mit einem sog. Bayes-Rechner verdeutlichen, der die Bayesschen Argumente statistisch formalisiert berechnet (z.B. Graphpad: https://www.graphpad.com/quickcalcs/interpretPValue1/; man muss die Option „interpret p-value“ verwenden).
Eine Bayes-Simulation unterschiedlicher Ausgangswahrscheinlichkeiten zur Möglichkeit homöopathischer Wirkung
Ich habe in der nachstehenden Tabelle unterschiedliche Ausgangswahrscheinlichkeiten simuliert. Den Skeptiker (Ausgangswahrscheinlichkeit 0.001%), den Neutralen (Ausgangswahrscheinlichkeit 50%; so wie eigentlich Wissenschaft operieren sollte), den Gläubigen (Ausgangswahrscheinlichkeit 95%) und verschiedene Ergebnisse. Die statistische Mächtigkeit (Power) habe ich hoch gesetzt (also 95% oder alpha = beta; Fehler erster Art = Fehler zweiter Art; eine durchaus übliche Konvention in klinischen Studien; wer mehr wissen will, muss in meinem Methodenblog nachlesen oder auf Wikipedia).
Tabelle: Ergebnis einer Bayes-Simulation: Welchen Einfluss hat das Ergebnis einer einzigen hochsignifikanten klinischen Studie (p = 0.001) auf die Veränderung der Ausgangswahrscheinlichkeit eines Skeptikers (prior = 0.001% Chance, dass Homöopathie wirken kann), eines Neutralen (prior = 50% Chance) und eines Gläubigen (95% Chance)
Ausgangswahrscheinlichkeit, dass Homöopathie wirken kann (prior probability) |
Empirisches Ergebnis einer Studie: Signifikanzniveau |
Posteriore Wahrscheinlichkeit, dass Homöopathie wirkt |
|
Skeptiker | 0.001 % | 0.001 | 0.0094 |
Neutraler | 50 % | 0.001 | 0.9989 |
Gläubiger | 95 % | 0.001 | 0.9999 |
Wir sehen: das Ergebnis ein und desselben klinischen Experimentes hat sehr unterschiedliche Auswirkungen. Beim Skeptiker verändert sich dessen skeptische Haltung nur mild auf 0.0094 oder 9.4 Promille, dass Homöopathie wirklich funktionieren kann. Beim Neutralen verändert eine sehr gute Studie mit sehr gutem Resultat die anfangs neutrale Haltung (50:50) in ziemliche Sicherheit (0.9989) und beim Gläubigen sowieso. Umgekehrt könnte man nun fragen: Wie viele Studien braucht es denn um Skeptiker zu überzeugen? Wenn man die oben angegebenen Parameter verwendet, dann müssten eigentlich bei einem rationalen Skeptiker, der dem Theorem von Pastor Bayes folgt, vier Studien dieser Art genügen, um die Skepsis in Sicherheit zu überführen. Da aber vermutlich meine oben angenommene Zahl (0.001% Ausgangswahrscheinlichkeit) viel zu hoch ist, und nicht alle Studien so starke Ergebnisse aufweisen, dürften es mit Sicherheit mehr Studien sein, die nötig sind.
Empirie alleine reicht nicht
Da wir Menschen aber nur begrenzt rational denken und handeln, dürfte die Frage, ob Empirie ausreichend ist, eher akademischer Natur sein. Denn wir Menschen sind nicht nur sehr stark auf unsere Vormeinungen angewiesen und lassen sie ungern ziehen und uns von der Empirie bekehren. Wir sind auch sehr eng emotional mit unseren Theorien von der Art, wie die Welt funktioniert verbunden. Daher ist die Frage, ob Homöopathie als wissenschaftlich gelten kann bzw. ab wann sie wissenschaftlich akzeptiert ist, keine empirische, oder nur teilweise eine empirische Frage. Denn die nötigen vier bis sechs klinischen Studien, um den oben simulierten Skeptiker zu bekehren, gibt es im Ensemble der etwa 120 klinischen Studien auf jeden Fall, wie der vorherige Blog-Beitrag gezeigt hat (www.homöopathie-forschung.info/EASAC). Wenn man allerdings verlangt, was Skeptiker in der Regel tun, dass sie alle in ein und derselben Diagnosekategorie vorliegen müssen, und das möglicherweise in jeder, die von der Homöopathie so behandelt wird, dann wird es in der Tat dünn. Nur, auch das habe ich letztes Mal gezeigt, ist diese Frage keine Frage, die der Homöopathie angemessen ist.
Aus dem Grund wird die Frage, ob Homöopathie wissenschaftlich akzeptiert wird bzw. akzeptabel ist, nur zum kleineren Teil von empirischen Argumenten geklärt werden können. Vielmehr werden wir eine Debatte darüber benötigen, ob, und gegebenenfalls welche, theoretische Modelle vorhanden sind, die die Homöopathie verstehbar machen. Denn das verändert die Ausgangswahrscheinlichkeiten unter denen die je gleichen empirischen Ergebnisse ganz anders bewertet werden. In einem der folgenden Blogs werden wir diesen Fragen nachgehen. Aber vielleicht wäre es ja schon eine Lösung Zweifel über die Theoriemöglichkeit für eine rationale Theorie der Homöopathie zu suspendieren und also dem Modell eines unvoreingenommenen Betrachters zu folgen. Dann würde der Wissensbestand allemal ausreichen, um die Wirksamkeit der Homöopathie als Beleg zu verwenden. Nur muss einem klar sein: das ist noch kein wissenschaftliches Faktum. Denn ein wissenschaftliches Faktum entsteht erst, wenn die Gemeinschaft der Wissenschaftler in einem öffentlichen Diskurs eine Situation als belegt akzeptiert hat. Und dazu gehört der momentane empirische Stand des Wissens zusammen mit einer denkbaren, akzeptablen und vermittelbaren Theorie und ein Konsens darüber. Und daher sind wir noch weit davon entfernt Homöopathie als wissenschaftlich belegt bezeichnen zu können. Genauer gesagt, das momentane Faktum ist eher: Homöopathie ist nicht belegt. Nicht, weil der Datenbestand so wäre, sondern weil die Diskurssituation so ist. Eine wissenschaftliche Tatsache ist die Übereinkunft, mit dem Denken aufzuhören. So ähnlich hat es Ludwik Fleck einmal ausgedrückt [1].
[1] Fleck, L. (1980). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Mit einer Einleitung herausg. v. L. Schäfer und T. Schnelle. Frankfurt: Suhrkamp. (Original erschienen 1935).