Die populärsten Irrtümer über die Homöopathie

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– und die konventionelle Medizin

Zusammenfassung und Abschluß: Der Status der Homöopathie und die derzeitige Kampagne

Harald Walach

In dieser Serie haben wir die wichtigsten Irrtümer über die Homöopathie und am Rande auch einige über die konventionelle Medizin aufgeklärt. Damit kommt diese kleine Reihe vorläufig zum Abschluß.

Homöopathie verwendet ein altes und bewährtes Therapiekonzept. Das Ähnlichkeitsprinzip ist ein therapeutisches Prinzip, das auch in der konventionellen Medizin angewandt wird. Die Homöopathie hat eine Methode gefunden, es nutzbar zu machen, nämlich durch die Arzneimittelprüfung am Gesunden. Diese hilft dabei, die Arzneimittelbilder zu erzeugen. Das Potenzierungsprinzip ermöglicht es, auch giftige oder chemisch träge Stoffe durch eine Art der Erschließung nutzbar zu machen, die wir noch nicht verstanden haben. Dass höhere Potenzen bei guter Passung der Arzneimittelbilder besonders gut zu wirken scheinen ist ein Paradox, das die Homöopathie rein empirisch entdeckt hat und für das wir keine Erklärung haben. Aber das macht die Homöopathie nicht zu einer Absurdität, wie die Kritiker meinen, sondern zu einer wissenschaftlichen Anomalie. Die Konsequenz sollte sein: jetzt erst recht versuchen zu verstehen, was da passiert. Für die Praxis heisst das: Homöopathie erzeugt offenbar gerade mit den hohen Potenzen Effekte. Das belegen nicht nur klinische, sondern auch Grundlagenforschungsstudien. Dass hier die Datenlage zwar nicht eindeutig, aber doch deutlich positiv ist, zeigen eine ganze Reihe von Meta-Analysen und Überblicksarbeiten. Natürlich, man kann sie alle ignorieren und, wie manche, nur 5% der Daten zur Bewertung heranziehen und dann zur oft gehörten, aber deswegen nicht weniger falschen Ansicht kommen, es gäbe keine wissenschaftlichen Belege. Diese Aussage ist nachweisbar falsch. Ihre Wiederholung hat nichts mit Aufklärung zu tun, sondern ist reine Propaganda über deren Motivation wir anschließend noch ein bisschen spekulieren wollen. Dass die Datenlage zu Homöopathie zwar positiv, aber nicht eindeutig ist, hat sie mit der konventionellen Medizin gemeinsam. Legt man auch bei der konventionellen Medizin strenge Massstäbe an, so ist nur der geringste Teil aller standardmäßigen Anwendungen wirklich gut belegt, und sehr beliebte Massnahmen sind weniger gut untersucht, als man das gerne hätte. Fast die gesamte Chirurgie beruht, ähnlich wie die Homöopathie, auf Empirie, auf Erfahrungswissen. Viele kardiologische Interventionen, z.B., sind noch nie in einer verblindeten randomisierten Studie evaluiert worden [1]. Im Fall der Chirurgie kommt unterstützend hinzu, dass wir dort auch noch ein paar mechanistische Argumente haben. Aber diese sind, wie so manche Studie gezeigt hat, nicht immer richtig [2]. Sollte man daher die ganze Chirurgie zum Fenster hinauswerfen? Ich glaube, es ist nützlich, wenn man, wie jeder klinische Praktiker das tut [3], unterschiedliche Typen von Daten heranzieht, um sich ein Bild über ein Fachgebiet zu machen. Klinische Studien gehören sicher dazu, aber auch andere Informationen, z.B. unmittelbare Erfahrungen, langfristige Beobachtungsstudien, Fallsammlungen und Fallbeschreibungen von Heilungen bei Einzelfällen mit schlechter Prognose [z.B. 4]. Gerade solche Fälle füllen die homöopathische Materia Medica seit es Homöopathie gibt und sie haben u.a. zur Verbreitung der Homöopathie beigetragen. Natürlich könnte man da sagen: alles Placebo-Effekte. Möglicherweise ist die Homöopathie ja wirkliche eine extrem kluge Art und Weise, Selbstheilungseffekte hervorzurufen. Das wäre es nämlich, was man unter dem Begriff „Placebo-Effekt“ verstehen müsste: Effekte der Selbstheilung [5]. Und vielleicht würde eine sorgfältige Untersuchung der Homöopathie ja dazu beitragen, diese besser zu verstehen und nutzbar machen zu können.

Die empirische Befundlage zur Homöopathie ist also nicht sehr viel anders als die in der konventionellen Medizin; darauf haben verschiedene Autoren immer wieder hingewiesen [6]. Der Unterschied besteht darin, dass wir für die konventionelle Medizin ein akzeptiertes theoretisches Narrativ haben: das Maschinenmodell vom menschlichen Organismus, das vermeintlich so manches erklärt. Dass dies sehr häufig auf Abstraktionen und auch falschen Konstruktionen beruht, steht auf einem anderen Blatt, das wir jetzt nicht umdrehen wollen. Im Gegensatz dazu haben wir zur Homöopathie kein brauchbares theoretisches Narrativ, das erklären könnte, wie Homöopathie wirkt. Alles was es gibt sind Spekulationen. Das ist wichtig zu wissen und anzuerkennen. Das bedeutet aber nicht, dass Homöopathie deswegen stümperhaft ist und nicht funktioniert. Es bedeutet: Wir haben keine Ahnung, wie wir diese emprischen Befunde und die klinischen Erfolge der Homöopathie verstehen können und in den Gesamtbestand des wissenschaftlichen Wissens einordnen sollen. Da würden auch ehrliche Homöopathiebefürworter und ich selber allen Kritikern zustimmen. Ein etwas gesteltzer Begriff für diesen Sachverhalt ist: die Homöopathie ist eine wissenschaftliche Anomalie. Wissenschaftliche Anomalien sollten, das zeigt die wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Diskussion und der gesunde Menschenverstand, untersucht und ernstgenommen werden, nicht ausgegrenzt. Ich persönlich bin der Meinung, dass dies komplexer ist, als viele denken, weil aus meiner Sicht die empirische Signatur der Homöopathie darauf hinweist, dass wir es mit einer Klasse von Phänomenen zu tun haben, die sich nicht ins gängige Schema der klassischen Effekte von Ursache-Wirkung einordnen lassen.

Wolfgang Pauli, einer der Begründer der Quantenmechanik, und Carl Gustav Jung, einer der Gründerväter der Tiefenpsychologie, haben in ihrem Dialog eine neue Klasse von Phänomenen regelhafter, aber nicht-kausaler Beziehung gefordert, die sie mit dem etwas unglücklichen Namen „Synchronizität“ belegt haben [7]. Damit meinten sie regelhafte Beziehungen, die nicht durch Ursache-Wirkung zustande kommen, sondern durch Sinnentsprechung und die zwar regelhaft, aber nicht kausal vermittelt sind, also durch Austausch von Energie und Signalübertragung. Sie haben damit aus meiner Sicht einen weitsichtigen Schritt getan, der noch wenig verstanden ist. Möglicherweise gibt es ja eine solche Art der regelhaften Bezogenheit, die dennoch nicht klassisch-kausaler Natur ist. Homöopathie wäre dann möglicherweise, neben anderen Phänomenen, ein Beispiel dafür.

Daraus die Unwissenschaftlichkeit der Homöopathie konstruieren zu wollen, wie das die Homöopathiekritik tut, ist wissenschaftshistorisch schlecht informiert und sachlich falsch. Daraus lässt sich allenfalls konstruieren, dass die Homöopathie mit den gängigen Modellen von wissenschaftlicher Regelhaftigkeit nur schwer verstehbar ist. Das würde, glaube ich, nur schwer bestreitbar sein. Aber das heisst noch lange nicht, dass Homöopathie unwissenschaftlich ist. Eine Definition von Wissenschaftlichkeit, so haben wir gesehen, aus dem Horizont dessen heraus, was wir derzeit wissen, war schon immer die Methode der ewig Gestrigen, die sich jedem Fortschritt und jeder Neuerung verschlossen haben. Das klassische Argument einer solchen Haltung ist: Es ist unmöglich, weil … [setzen Sie alle möglichen derzeitigen Wissensbestände ein]. Und der Beweis, dass es doch möglich ist, hat noch in beinahe jedem Fall unser Wissen und unsere Handlungsmöglichkeit bereichert. Eisenbahnen sind möglich geworden und haben uns nicht geschadet. Flugzeuge sind möglich geworden, staubsaugende und rasenmähende Roboter und weiss der Geier was sonst noch alles, von dem man zuvor sagte, es sei unmöglich.

Damit sind wir auch bei des Pudels Kern angelangt:

Die Homöopathie ist in zweierlei Hinsicht ein Stein des Anstoßes und darum wird sie so heftig bekämpft. Zum einen widersteht sie der Analyse des mechanistisch-materialistischen Mainstream-Paradigmas und ist daher ein theoretisches Ärgernis, das bekämpft werden muss. Zum anderen ist Homöopathie pragmatisch-klinische erfolgreich und würde, wenn breiter verwendet und allgemein akzeptiert, so manche derzeit gängige Methode der Therapie wenn nicht überflüssig machen, so doch deutlich in ihrer Beliebtheit einschränken. Das ist ein Wirtschaftsfaktor, der den meisten im Gesundheitswesen tätigen Akteuren nicht angenehm ist. Denn alle Akteure verdienen damit, dass sich nichts ändert.

Es gibt derzeit eine extrem aggressive Kampagne gegen die Homöopathie, die ich seit mindestens 2006 beobachte. Sie ging los, als sich in der wissenschaftlichen Literatur die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass manche vielversprechenden pharmakologischen Mainstreaminterventionen weniger wirksam sind, als man dachte und verschiedene Hoffnungsträger der pharmakologischen Industrie sich als nicht tragfähig erwiesen, wie etwa eine ganze Palette von Antidementiva [8]. Sie dürfte damit vergesellschaftet sein, dass wirtschaftliche Vorhersagen der Homöopathie eine drastische Nachfragesteierung prophezeit haben [s. Beitrag zu dem EASAC-Statement]. Aber vielleicht ist ja die theoretisch-ideologische Motivation sogar nocht stärker: Die Homöopathie fordert das herrschende Mainstream-Paradigma heraus, das implizit behauptet ein materialistisches Weltbild würde ausreichen, um uns Menschen, unser Leben, unser Handeln, unser Bewusstsein zu erklären, wie es der momentane implizite Konsens von Wissenschaftsakteuren, Wissenschaftsjournalisten und einer materialistisch-ökonomisch getriebenen Zeitströmung zu sein scheint. Dass diese Haltung alles andere als bewiesen ist und nichts anderes als eine ideologische Vermutung, steht auf einem anderen Blatt (vgl. https://www.galileocommission.org/). Denn im Rahmen dieses Paradigmas lässt sich Homöopathie nicht verorten, und die liebedienernden Versuche von Seiten der Homöopathie, dies zu tun, halte ich persönlich für die größte Schnapsidee innerhalb der Homöopathieforschung. Die Homöopathie ist ein Stein des Anstoßes, der unser scheinbar so klares und eindeutiges Bild der Wirklichkeit verunstaltet, weil sie nicht hineinpasst. Darum wird sie so aggressiv bekämpft.

Oder kann mir jemand verraten, welches sonst die Motivation sein sollte? Es hat sich noch immer das, was nichts taugt, von selber abgeschafft. Das ist das Prinzip der Evolution, dachte ich, oder? Warum also Zeit, Energie, Druckerschwärze, Speicherkapazität auf etwas verwenden, das sowieso nichts als Blödsinn ist? Kommt etwa jemand auf die Idee, eine Kampagne gegen Spielautomaten, oder noch besser, gegen Autos und Computerspiele anzuzetteln, obwohl man in diesen Bereichen vermutlich mehr Gefährdungs- und Problempotenzial verorten kann, als bei der Homöopathie? Ich denke, diese Kampagne zeigt, dass die Homöopathie von verschiedenen Aktivisten als potenziell gefährlich eingestuft wird: gefährlich nicht für Menschen, auch nicht für Patienten, sondern gefährlich für die allgemeine Akzeptanz eines materialistisch-naturalistischen Weltbildes, wie es einige selbsternannte Wissenschaftspäpste vertreten, von Daniel Dennett über Sam Harris und Steven Pinker [9] und viele andere, die sich in der Bewegung der „Brights“ zusammengetan haben (http://www.the-brights.net/). Und gefährlich auch für den momentanen Konsens dessen, was Krankheit und Heilung ist. Aber wenn man in die Geschichte der Wissenschaft blickt, dann war das vermeintliche Wissen immer schon der größte Feind der wirklichen Erkenntnis. In diesem Sinne ist das vermeintliche Wissen über die Homöopathie, das die Homöopathiekritik zu verbreiten versucht reaktionär: es versucht eigentliche Erkenntnis zu verhindern, auch wenn die Homöopathiekritiker selber das vermutlich gar nicht verstehen, weil sie ohne historischen und wissenschaftstheoretischen Horizont agieren.

Die populärsten Irrtümer über die Homöopathie und die konventionelle Medizin

–          Irrtum Nr. 1  – Therapieprinzip unbewiesen

–          Irrtum Nr. 2  – Unwissenschaftlich

–          Irrtum Nr. 3  – Fehlende Diagnostik

–          Irrtum Nr. 4  – Ungeprüfte Medikamente

–          Irrtum Nr. 5  – Teurer Zucker

–          Irrtum Nr. 6  – Widerwärtige Arzneimittel

–          Irrtum Nr. 7  – Gefährlich

–          Irrtum Nr. 8  – Potenzierung – alles Hokuspokus

–          Irrtum Nr. 9  – Unmöglich

–          Irrtum Nr. 10 – Nichts drin

–          Irrtum Nr. 11 – Veraltete Theorie

Referenzen

[1] Tricocci, P., Allen, J. M., Kramer, J. M., Califf, R. M., & Smith Jr, S. C. (2009). Scientific evidence underlying the ACC/AHA clinical practice guidelines. Journal of the American Medical Association, 301, 831-841.

[2] Moseley, J. B., O’Malley, K., Petersen, N. J., Menke, T. J., Brody, B. A., Kuykendall, D. H., et al. (2002). A controlled trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. New England Journal of Medicine, 347, 81-88.

[3] Gabbay, J., & le May, A. (2004). Evidence based guidelines or collectively constructed „mindlines“? Ethnographic study of knowledge management in primary care. British Medical Journal, 329, 1013-1017.

[4] Mahesh, S., Mallappa, M., & Vithoulkas, G. (2017). Embryonal carcinoma with immature teratoma: A homeopathic case report. Complementary Medicine Research, online first(DOI: 10.1159/000481819). https://www.karger.com/Article/Abstract/481819

Nwabudike, L. C. (2018). Case reports of acne and homeopathy. Complementary Medicine Research, 25, 52-55. https://www.karger.com/Article/Abstract/486309

Teut, M., & Dippler, C. (Eds.). (2017). Homöopathie bei Demenz: Eine Fallsammlung. Pohlheim: Ahlbrecht.

[5] Walach, H. (2015). Reconstructing the meaning effect – The capacity to self-heal emerges from the placebo concept. Tidsskrift for Forskning i Sygdom og Samfund, 23, 111-139. https://www.galileocommission.org/wp-content/uploads/2018/06/Walach_Placebo-Effect_Tijdskrit-for-Forsning_2015.pdf

Walach, H. (2018). Heilung kommt von innen: Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen. München: Knaur Verlag.

Walach, H., & Breitkreutz, F. (2018). Placebo und Placeboeffekte. In H. Walach, S. Michael & S. Schlett (Eds.), Das große Komplementärhandbuch für Apotheker und Ärzte (pp. 356-374). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.

[6] Milgrom, L. R. (2012). Homeopathy UK: The sick man of Europe? Forschende Komplementärmedizin, 19, 120-122. https://www.karger.com/Article/Abstract/339950

[7] Meier, C. A. (Ed.). (1992). Wolfgang Pauli und C.G. Jung. Ein Briefwechsel 1932-1958. Heidelberg: Springer.

Walach, H. (1998). Der Komplementaritätsgedanke in der Interaktion zwischen Psychologie und Physik. In J. Jahnke, J. Fahrenberg, R. Stegie & E. Bauer (Eds.), Psychologiegeschichte – Beziehungen zu Philosophie und Grenzgebieten (pp. 85-108). München: Profil.

Walach, H. (2000). Magic of signs: a non-local interpretation of homeopathy. British Homeopathic Journal, 89, 127-140. https://www.researchgate.net/publication/12380520_Magic_of_signs_A_non-local_interpretation_of_homeopathy

[8] Turner, E. H., Matthews, A. M., Linardatos, E., Tell, R. A., & Rosenthal, R. (2008). Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. New England Journal of Medicine, 358, 252-260.

Kirsch, I., Deacon, B. J., Huedo-Medina, T. B., Scoboria, A., Moore, T. J., & Johnson, B. T. (2008). Initial severity and antidepressant benefits: A meta-analysis of data submitted to the food and drug administration. PLoS Medicine, 5(2), e45.

NICE. (2006). Dementia: Supporting people with dementia and their carers in health and social care. London: National Institute for Clinical Excellence.

NICE. (2009). Donepezil, galantamine, rivastigmine (review) and memantine for the treatment of Alzheimer’s disease (amenden). London: National Institute for Clinical Excellence.

Walach, H. (2009). The campaign against CAM and the notion of „evidence-based“. Journal of Alternative & Complementary Medicine, 10, 1139-1142. https://www.liebertpub.com/doi/abs/10.1089/acm.2009.0423

[9] Walach, H. (2019, im Druck). Schöne neue Welt? Ein Essay über Steven Pinker (2018) Enlightenment Now. Aufklärung und Kritik, im Druck(2), 181-193. http://www.gkpn.de/aufklaerung_und_kritik.htm

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Ist Homöopathie also nun ein Placebo? Pros, Cons, und einige Fälle zum Nachdenken

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Harald Walach

„Der Placebo-Effekt“, so habe ich im letzten Blog gezeigt, sollte eigentlich umbenannt werden in „Selbstheilungs-Effekt“ (www.homöopathie-forschung.info/placebo/). Ist also Homöopathie doch Placebo, also eine Arznei, die nur so tut als wäre sie eine, aber in Wirklichkeit nur psychologische Prozesse im Patienten auslöst, die dann zu einer Regulation und damit zur Selbstheilung führen? Ich hatte ja gesagt: die klügste und spezifischste Therapie wäre eine solche, die es verstünde solche Prozesse anzuregen und systematisch zu nützen. Ist also nun Homöopathie eine Placebotherapie in diesem Sinne, dass sie solche Selbstheilprozesse ausschließlich über psychologische Prozesse anregt und damit zu Linderung oder Heilung von Krankheit beiträgt?

Nehmen wir einen Teil der Antwort vorweg: Selbst wenn dem so wäre, dann wäre Homöopathie eine raffinierte Therapie die etwas kann, was andere Therapien kaum in dieser Systematik und allenfalls mit mehr Aufwand können. Sie löst nämlich  solche Selbstheileffekte, folgt man den Daten von unkontrollierten, systematischen Beobachtungsstudien, bei etwa 70% der Patienten aus, so dass Diagnosen und Symptome bei etwa einem Viertel der Patienten, die fast ausschließlich an chronischen Problemen litten und vorbehandelt waren, nach einem Jahr verschwunden waren  [1, 2].

Homöopathie ist Placebotherapie: Argumente dafür

Folgende Argumente sprechen dafür, dass Homöopathie eine Therapie ist, die über psychologische Prozesse Selbstheileffekte auslöst:

1) Es ist sehr schwer in klinischen Studien die Überlegenheit homöopathischer Therapie über Placebo eindeutig zu belegen

Auch wenn ich in meinem Kommentar zum EASAC-Dokument (www.homöopathie-forschung.info/easac/) geschrieben habe, dass sowohl die alten, als auch die neuen meta-analytischen Befunde zeigen, dass zumindest über alle Studien hinweg Homöopathie von Placebo  unterscheidbar ist, so ist daraus noch keine wissenschaftliche Tatsache konstruierbar. Denn eine wissenschaftliche Tatsache entsteht erst dann, wenn ein empirischer Befund so hart ist, dass selbst Skeptiker nicht daran vorbeikommen, ihn anzuerkennen und wenn der wissenschaftliche Diskursprozess diese Befunde allgemein akzeptiert hat. Dazu würde auch eine akzeptable Theorie gehören, die nicht in Sicht ist. Hinzu kommt, da muss man den skeptischen Argumenten recht geben, dass es sehr schwierig ist, im klinischen wie im experimentellen Feld replizierbare Befunde zu erzeugen. Anders gesagt: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Eine einzige klinische Studie, die positiv ist, heißt noch nicht, dass der Befund wissenschaftlich erhärtet ist. Es könnte sich um eine Zufallsschwankung handeln; Leute könnten sich getäuscht haben; es könnten unerkannte systematische Fehler passiert sein. Deshalb will man ja Replikationen, idealerweise durchgeführt von unabhängigen Forschungsgruppen [3]. Und die sind in der klinischen und experimentellen Forschung nicht so häufig. Deshalb gibt es zwar eine Überlegenheit über Placebo über alle Studien hinweg [4], aber nicht, wenn man nach replizierten klinischen oder experimentellen Paradigmen sucht. Es gibt zwar, so scheint es, in der experimentellen Grundlagenforschung einige replizierbare und replizierte Paradigmen, aber auch diese sind nicht ganz so einfach zu beurteilen.

Jedenfalls würde ich aus meiner eigenen Forschungserfahrung heraus tatsächlich bestätigen: die Inkonsistenz der Befunde in der Homöopathieforschung ist hoch, und dies spricht nicht dafür, dass wir es mit einem systematischen, klassischen pharmakologischen Effekt zu tun haben. Sonst wäre es uns wohl gelungen die in der unkontrollierten Praxis dokumentierten großen Effekte bei Kopfschmerzen etwa, in einer Serie von kontrollierten Studien einzufangen. Genau das ist bei den vorliegenden Studien zu Kopfschmerzen nicht gelungen. Und nur bei wenigen klinischen Syndromen sieht die Lage anders aus. Wenn man also das Kriterium einer, besser mehrerer, replizierter Serien von Studien in einem Forschungsmodell anlegt, dann ist zumindest in der klinischen Forschung der Unterschied von Placebo kaum zu sichern.

2) Die sog. „spezifischen“ Arzneimittelprüfungssymptome tauchen in homöopathischen pathogenetischen Studien oder Arzneimittelprüfungen nicht nur unter homöopathischen Arzneien, sondern auch unter Placebo auf

Einer der Pfeiler der Homöopathie ist ja die Prüfung von homöopathischen Arzneien am Gesunden. Das bedeutet: freiwillige Gesunde nehmen homöopathische Arzneien, meistens in potenzierter Form, zu sich und notieren die Symptome, die sie beobachten. Diese werden dann, zusammen mit Symptomen aus Vergiftungsberichten bei toxischen Substanzen oder Symptomen, die man bei Kranken beobachtet hat, die mit dem Arzneimittel geheilt wurden, zu den anzeigenden Symptomen der Arzneimittellehre. Das heißt, wenn ein Kranker dieses Symptom, meistens zusammen mit anderen, aufweist, dann verwendet man diese Arznei zur Behandlung. So ist die Arzneimittellehre entstanden, die mehr als 2000 Arzneien kennt, von denen wohl etwa 250 zu den häufiger verwendeten Arzneien gehören, deren Symptomatik ein guter homöopathischer Arzt mindestens im Überblick kennen sollte. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Symptomensammlungen in den Arzneimittellehren stimmen und wirklich spezifisch sind. Es haben sich schon viele homöopathische Ärzte oder solche, die zu homöopathischen Ärzten wurden oder sich wieder von ihr abwandten, darüber beklagt, wie wenig klar eigentlich ist, ob diese Symptome wirklich stimmen.

Viele der originalen Arzneimittelbilder stammen etwa von Hahnemann selbst. Der hat immer wieder die gleichen Leute als Prüfer verwendet. Auch wenn er ein guter Beobachter war, tauchen bei den gleichen Prüfern auch unter verschiedenen Arzneien immer wieder ähnliche Symptome auf. Ist vielleicht ein Teil der in der Arzneimittellehre enthaltenen Symptome einfach der individuellen Symptomatik einzelner Prüfer geschuldet? Andere Prüfungen sind mit kaum mehr nachvollziehbarer Methodik gemacht. Die meisten, auch neueren Prüfungen, würden modernen methodischen Ansprüchen nicht standhalten [5]. Und bei neueren Prüfungen, die mit sorgfältiger Verblindung und Randomisierung arbeiten, tauchen die vermeintlich spezifischen Arzneimittelsymptome auch in Placebogruppen auf. Ich weiß von Prüfungen, wo neue Arzneimittel geprüft wurden und wunderbare Symptome erzeugt haben; fast alle in der Placebogruppe. Und manche publizierte Prüfungen zeigen dieses Dilemma sehr offenkundig [6, 7]. Ich selber habe auch solche paradoxen Effekte in meinen eigenen Prüfungen gesehen. Und erst wenn man ein paar methodische Tricks anwendet gelingt es mit einiger Sicherheit die Trennung von homöopathischen Prüfsymptomen und Placebosymptomen zu zeigen; aber auch dieser Befund ist im Moment noch nicht repliziert. [8-11]

Jeder der homöopathische Arzneimittelprüfungen gemacht hat weiß: auch in streng verblindeten Placebogruppen tauchen die spezifichen Arzneimittelsymptome auf; manchmal kriegt sie der Hund oder die Ehefrau oder der Freund derjenigen Person, die eigentlich das Arzneimittel prüfen soll. Das spricht nicht unbedingt dafür, dass wir es hier mit einem systematischen, klassischen pharmakologischen Effekt zu tun haben.

3) Durch die ausführliche Anamnese werden vor allem psychotherapeutische Effekte ausgelöst, die einen Placeboeffekt plausibel machen

Homöopathische Therapie macht es nötig, dass Ärzte, vor allem in chronischen Fällen, eine ausführliche Anamnese erheben, die alle Bereiche des Lebens umfasst, von den akuten Symptomen bis zu anderen Krankheiten, deren Geschichte, der Frage nach Beziehung und Sexualität bis hin zu Vorlieben für Nahrungsmittel und Freizeit, etc. Daher sind homöopathische Erstgespräche ausführlich, in den dokumentierten Studien bei der Hälfte aller Patienten bis zu 2 Stunden, oder auch länger [1]. Qualitative Befragung von Patienten hat außerdem gezeigt: es ist genau diese ausführliche Beschäftigung mit ihrer Symptomatik, die die Homöopathie für Patienten so attraktiv macht [12]. Während die durchschnittliche Konsultationsdauer in der Allgemeinarztpraxis für komplexere Fälle etwa 5 Minuten 40 Sekunden beträgt, bei Männern kürzer bei Frauen etwas länger [13], wenden Homöopathen selbst bei Nachkonsultationen mindestens 15 Minuten auf. Das macht plausibel: Was hier eigentlich passiert, ist ja eine verkappte Psychotherapie. Patienten fühlen sich verstanden, gesehen, gehört, ernstgenommen und das erleichtert, schafft Vertrauen, Hoffnung und Entspannung; all die Effekte, von denen wir gesagt haben, sie sind dazu angetan einen Selbstheileffekt auszulösen.

Das stimmt sicherlich. Die Frage wäre: Sind diese Effekte ausreichend? Warum kommen dann normale und in ihrer Kunst geschulte Psychotherapeuten mit einem ausführlichen Erstgespräch und einigen kürzeren Folgegesprächen ohne weitere Interventionen nicht zu dem gleichen Ergebnis? Man würde Psychotherapeuten nämlich ziemlich Unrecht tun, würde man davon ausgehen, sie täten nichts als einfach explorieren, zuhören und verstehen.

Eine spannende Frage wäre: Was wäre, wenn „normale“ Ärzte sich der homöopathischen Anamnesetechnik bedienten, ausführliche Gespräche führten und anschließend „nichts“ tun bzw. Placebokügelchen verteilen? Hätten sie die gleichen Effekte? Wir wissen es nicht, weil es eine solche Studie nicht gibt. Ansatzweise wurde das in einer allerdings zu kleinen Studie untersucht und da zeigte sich, dass der Gesprächseffekt sehr groß war und der Beitrag der Substanz nicht erkennbar [14]. Allerdings ist das kein wirklich belastbarer Befund, weil die Studie ihre eigenen Rekrutierungsziele verfehlte und zu wenig statistische Mächtigkeit hatte.

4) Die homöopathischen Substanzen enthalten keinerlei Wirkstoffe, können also pharmakologisch nur Placebos sein

Das ist das Standardargument der Homöopathiekritik seit Hahnemanns Zeiten. Es ist zweifellos richtig, dass man vor allem in den höheren Potenzen keine Moleküle der Ausgangsstoffe mehr findet oder allenfalls in so niedriger Konzentration, dass die Verunreinigungen im Alkohol, im Glas, im Wasser, viel mehr ins Gewicht fallen und eigentlich alle homöopathischen Hochpotenzen chemisch ziemlich ähnlich sind und wie ein Gemisch aus Silicea, Bor, Strontium und noch ein paar anderen Elementen, die vor allem aus dem Glas kommen, angesehen werden müssen [15].

Die Frage ist allerdings: Ist die implizite Voraussetzung richtig, dass nur molekular-substanzielle Effekte physiologisch relevant sein können, wenn sie in wägbarem Sinne nachweisbar sind? Also bis zu einer Verdünnungsgrenze, mit der der Organismus auch operiert und die liegt derzeit bei etwa 10-9, also einer homöopathischen Potenz von D9 oder C5? Ich glaube nicht, dass es dafür irgendein plausibles Argument gibt außer, dass dies die Standard-Voraussetzung der Pharmakologie ist. Was aber, wenn diese in manchen Fällen nicht stimmt? Was, wenn es auch andere physiologische Effekte geben könnte? Elektromagnetische zum Beispiel, die wir mittlerweile kennen? Oder magnetische? Oder Kopplungseffekte an schwache, aber spezifische Felder? Oder noch andere Effekte, von denen wir noch gar keine Ahnung haben? Das führt uns zu Gegenargumenten.

Homöopathie ist keine Placebotherapie: Argumente dagegen

1) Es gibt keine einzige medizinische Therapieform des 18. Jahrhunderts, die trotz der Weiterentwicklung der Medizin und trotz kontinuierlicher Anfeindungen und Forschungsrückschläge immer wieder Renaissancen und Popularitätsschübe im gleichen Masse erlebt hat, wie die Homöopathie

Die Homöopathie ist ein Kind des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Damals gab es eine Fülle von Therapievorschlägen, die wesentlich populärer waren, als die Homöopathie, zum Beispiel der Brownianismus, der bei der geistigen Elite damals sehr beliebt war, weil logisch und einleuchtend [16]. Der Brownianismus ist sang- und klanglos untergegangen, obwohl er viele Unterstützer im kulturellen und medizinischen Mainstream hatte. Nicht aber die Homöopathie. Warum? Man könnte argumentieren, dass andere Naturheilverfahren, die damals aufkamen – die Wasserkuren von Prießnitz oder die Naturheilkunde von Kneipp und anderen – immer noch populär sind, was aber wenig über deren spezifische Effekte aussagt. Das mag sein. Mein Argument hier ist: wenn nichts, aber wirklich auch gar nichts, hinter der Homöopathie stecken würde, wäre dann nicht davon auszugehen, dass sie durch eine Art praktische Empirie aus dem Feld verschwunden wäre? Und zeigt nicht die schiere Tatsache, dass es die Homöopathie immer noch gibt, sehr zum Leidwesen vieler Intellektueller, die seit Hahnemanns Zeiten nicht müde werden sie zu bekämpfen, dass irgendetwas an ihr interessant sein muss? Die Homöopathie hat in ihrer Geschichte viele Rückschläge hinnehmen müssen. In den USA ist sie in Folge des Flexner-Reports und der Umstrukturierung der medizinischen Ausbildung, als Folge des Bannes der American Medical Association zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast völlig von der Bildfläche verschwunden und erlebte dann wieder eine Renaissance. Warum? In Deutschland hat die braune Aneignung der Homöopathie und Naturheilkunde nicht unbedingt dazu beigetragen, sie den demokratischen Folgeinstitutionen und der Nachkriegsgeneration zu empfehlen, und der von den Nazis angestrengte Beweis der Homöopathie wurde aus verschiedenen Gründen nie erbracht [17]. Trotzdem ist die Homöopathie wieder neu populär geworden. Warum? Man kann sicher nicht allen Homöopathiefreunden vorwerfen, sie seien verkappte Nazis, wie das manche tun.

Wir haben heute in Deutschland vermutlich eines der besten medizinischen Versorgungssysteme der Welt. Daran kann es kaum einen Zweifel geben. Das scheint mir vor allem auf die Versorgung von Notfällen und akuten Erkrankungen zuzutreffen. Bei der Versorgung chronischer und funktioneller Beschwerden scheint das System weniger effizient zu sein. Denn sonst würden Menschen ja kaum nach anderen Optionen suchen. Alle Daten die wir kennen sprechen dafür, dass die typischen Homöopathiepatienten solche sind, die vorher alle möglichen konventionellen Optionen ausprobiert haben und entweder wegen deren Wirkungslosigkeit oder wegen unerwünschter Nebenwirkungen zum Homöopathen kommen. Woran liegt das? Offenbar müssen diese Patienten dort eine Form der Hilfe erfahren, die sie anderswo im System nicht erhalten haben. Ist das nur der Gesprächskompetenz der Homöopathen geschuldet? Ich weiß aus den Daten unserer eigenen Studie, dass Patienten oftmals durchaus unzufrieden sind mit der Tatsache, dass sie so viele intime Daten preisgeben müssen, um eine homöopathische Behandlung zu erhalten. Und wenn ich an das denke, was ich so von und über homöopathische Gespräche weiß, dann scheint mir eine Wirkung die nur auf dem Gespräch basiert, eher unwahrscheinlich. Dazu sind, mit Verlaub, die meisten Homöopathen zu schlechte Psychotherapeuten. Das allein scheint also keine ausreichende Erklärung dafür zu sein, dass es die Homöopathie noch immer, und mit gleichbleibender Popularität, gibt.

2) Die Popularität der Homöopathie scheint mit der Tatsache zusammenzuhängen, dass es immer wieder gut dokumentierte, manchmal spektakuläre, manchmal erstaunliche klinische Erfolge gibt, die nicht leicht erklärbar sind.

Eine offenkundige Ursache für den historischen Erfolg der Homöopathie sind ihre klinischen Erfolge. Das begann damit, dass homöopathische Behandlungen in den großen Cholera- und anderen Epidemien des 19. Jahrhunderts klinisch erfolgreicher waren als konventionelle, wodurch die Homöopathie ihren Siegeszug in Europa angetreten hat [18]. Das heißt nicht unbedingt, dass der Erfolg durch die homöopathischen Arzneien verursacht worden wäre. Die Tatsache, dass homöopathische Ärzte ihren Cholerapatienten Wasser gaben, was die konventionellen Ärzte nicht taten, und für eine freundliche Atmosphäre sorgten war möglicherweise ausreichend; denn neuere Versuche, diese Cholerabehandlung zu replizieren sind fehlgeschlagen [19].

Aber wenn man sich die homöopathischen Arzneimittellehren und die Literatur durchsieht, stößt man immer wieder auf erstaunliche Fallberichte. Nicht wenige von ihnen fügen die Bemerkung bei, dass der Behandler selbst nicht geglaubt habe, dass ein Erfolg denkbar wäre. Ich denke da etwa an den Fallbericht, den Charette in seiner Arzneimittellehre bei Arsenicum album anführt [20]. Ich kürze ab: Charette berichtet über einen Fall, den er 1927 behandelt hatte. Ein Mädchen hatte ihn zu ihrer sterbenskranken Mutter gerufen, die mit Typhus diagnostiziert worden war und aus dem Krankenhaus zum Sterben entlassen worden war. Er fand sie in einem Zustand vor, in dem er den Tod sehr nahe wähnte und gab ihr aufgrund der Symptomatik und auch, um ihr das Sterben zu erleichtern Arsenicum album C12 mit der Anweisung, das einige Tage weiterzunehmen. Als niemand den Totenschein abholt, sieht er erstaunt nach und findet die Patientin gebessert, die er dann noch eine Weile weiterbehandelt und nach 2 Wochen ohne Fieber und mit besserer Gesundheit wieder antrifft. Es folgen ein paar Komplikationen, die er mit anderen Arzneimitteln auffängt und nach 2 Monaten ist die Frau, der man den Tod prophezeit hatte, gesund.

Das ist einer von vielen Fällen aus der Literatur. Man kann nun natürlich anführen, dass Fälle nichts beweisen. Das stimmt. Aber sie können widerlegen und sie können gute Anhaltspunkte geben. Man kann mit Fällen etwa widerlegen, dass homöopathische Effekte nur bei trivialen Erkrankungen auftreten. Tun sie nicht, wie wir eben gesehen haben. Man kann mit sehr gut dokumentierten Fällen mindestens eine starke Korrelation von homöopathischer Arzneiwirkung und Symptomatik belegen. Das tut etwa folgender moderne Fall, der frei verfügbar ist [21]: Krebserkrankungen der Fortpflanzungsorgane sind bei Kindern sehr aggressiv. Dieser Fall handelt von einer solchen Behandlung bei einem indischen Mädchen. Die Eltern wollten keine konventionelle Nachsorge, nachdem der Primärtumor operiert worden war, sondern entschieden sich für eine homöopathische Behandlung. Eigentlich wäre aufgrund der Tumormarker eine Chemotherapie angezeigt gewesen, weil das Rückfallrisiko sehr groß war. In diesem Falle fand die Nachbehandlung mit einer mittelhohen Potenz von Tuberkulinum statt, die langsam in ihrer Höhe gesteigert wurde. Das Interessante an dem Fall aber ist nicht die Tatsache, dass das Kind nach einiger Zeit völlig beschwerde- und rückfallfrei mit einer Nachbeobachtung von 6 Jahren war, sondern dass innerhalb der Behandlung eine Heilungskrise auftrat, wie sie häufig zu beobachten ist. Starke Hautsymptome traten auf, die eine andere Arzneiwahl nötig machten. Eine Weiterbehandlung mit homöopathischem Pulsatilla in hoher Potenz führte zu einer graduellen Abheilung dieser Beschwerden und am Ende zu einer Stabilisierung. Interessant an diesem und ähnlichen Fällen ist: die therapeutische Tradition kennt solche Krisen, dass etwa Symptome von innen nach außen, also von einer Manifestation innerer Organe auf die Haut wandern und dass eine Folgebehandlung im homöopathischen Sinne dann das Terrain bereinigen kann. Eine solche Sequenz über Placebo-Effekte plausibel zu machen scheint mir zwar nicht unmöglich, aber sehr unwahrscheinlich zu sein.

3) Wenn Homöopathie nur als pharmakologisches Placebo wirken würde, dann würde man eine andere Datenlage erwarten

Die Aussage „Homöopathie ist nichts als ein Placebo“ ist, wissenschaftslogisch gesprochen, eine Allaussage. Und wissenschaftslogisch genügen einzelne Beispiele, die dieser Aussage widersprechen, um sie in ihrer Allgemeinheit als ungültig zu erweisen. Ich meine, dass die Fülle von Gegenbeispielen, die in Form von Fallgeschichten und Anekdoten vorliegt mindestens ein Gegenbeispiel birgt, die die Aussage unplausibel erscheinen lässt, dass Homöopathie immer und überall als Placebo anzusehen ist. Oben habe ich zwei Beispiele erwähnt, und man könnte vermutlich ein Leben damit zubringen, alle Fälle zu sichten und in diesem Sinne zu diskutieren.

Auch die Tatsache, dass mindestens manchmal in klinischen und experimentellen Studien so große Schwankungen auftreten, dass die Effekte sehr stark und statistisch sehr auffällig sind, ist nicht mit der Placebohypothese kompatibel. Natürlich sind auch Schwankungen denkbar, die extrem stark sind. Aber diese kommen selten vor und sollten dann durch Schwankungen balanciert werden, die in die andere Richtung mindestens ebenso stark sind, also Placebo gegenüber Homöopathie stark bevorzugen. Davon ist in der Literatur wenig zu sehen. Man müsste dann schon die etwas unplausible Hypothese bemühen, dass alle negativen Studien unpubliziert bleiben. Das ist unwahrscheinlich. Denn es gibt ja negative Studien, aber eben über alle Studien hinweg gesehen nicht ausreichend viele. Noch stärker wird das vielleicht sichtbar, wenn wir uns demnächst der Grundlagenforschung zuwenden.

4) Effekte tauchen häufig erst nach einer dritten oder vierten Verschreibung auf, wenn zusätzliche Informationen vorliegen und oft, wenn die Hoffnung bereits verpufft ist

Ein weiteres Phänomen, das schwer mit der Placebo-These erklärbar ist, ist folgendes: Erste Verschreibungen, manchmal auch zweite, sind nicht selten völlig wirkungslos bzw. sie lösen einen leicht als Placebo-Effekt erkennbaren kurzen Besserungsschub aus, der schnell verschwindet. Eigentlich müsste man ja folgendes erwarten: Wenn ein solcher Selbstheileffekt aufgrund des Gesprächs zustande kommt, dann sollte er in den meisten Fällen sofort nach der ersten Verschreibung sichtbar werden. Denn dann ist die Erwartung auf beiden Seiten hoch. Wenn die erste und auch die zweite Verschreibung aber wirkungslos  geblieben sind, warum sollte dann eine dritte Verschreibung, die vielleicht auf eine zusätzliche Information hin erfolgt, die durch eine nebenbei gemachte Äußerung bekannt wird, einen Effekt auslösen, den die ersten beiden nicht ausgelöst haben, wenn der generische Prozess der Kommunikation immer der selbe ist? Diese strikte Abhängigkeit der Verbesserungen von den richtigen Schlüsselsymptomen, die oft zu einer etwas ungewöhnlichen Arzneimittelwahl führen und dann relativ rasch und auch nach wenigen Worten geschehen können, sind mit einer reinen Placebo-These nicht gut vereinbar. Ein Kollege erzählte mir einmal folgende Geschichte: Eine Patientin bekam im Rahmen einer Homöopathie-Studie einen heftigen Hautausschlag, der es nötig machte, sie aus der Studie zu nehmen. Der verzweifelte Mann hatte sie im Auto gebracht. Der Kollege schrieb ihm ein Cortisonrezept und meinte noch, er könne ja bei der Gelegenheit vorher nochmals in der Apotheke Urtica urens C30, eine homöopathische Zubereitung der Brennessel, holen und ihr geben, bevor er das Cortison anwenden würde. Das tat er, gab der Frau im Auto noch die homöopathische Arznei. Bei der nächsten Ampel beobachtete, wie sie eingeschlafen war und als er nach Hause kam war der Ausschlag praktisch weg und das Cortison unnötig geworden. Möglicherweise war das Wissen um das Vorhandensein des Cortisons genug, um einen solchen Effekt auszulösen? Warum funktioniert das dann bei Millionen von anderen Menschen nicht, die das Cortison tatsächlich nehmen müssen, damit der Hautausschlag verschwindet? Homöopathisch ist der Fall klar: der Ausschlag hat dem Symptomenbild des Brennesselausschlages entsprochen und also hat die Arznei sehr rasch und präzis funktioniert.

Fassen wir zusammen:

Mir scheint die Datenlage mit zwei Hypothesen nicht kompatibel zu sein: Sie stützt nicht die Aussage, dass Homöopathie immer als Placebo anzusehen ist. Sie stützt aber auch nicht die Aussage, dass Homöopathie ein klassisch-pharmakologisches Signal ist, wie das die meisten Befürworter der Homöopathie meinen und was die Kritiker der Homöopathie voraussetzen, wenn sie die Homöopathie kritisieren.

Homöopathie scheint, zumindest manchmal und mit einer gewissen Systematik, Effekte auszulösen, die man von einer völlig unspezifischen Intervention nicht erwarten würde. Wie sie das tut ist völlig unklar. Vielleicht verbirgt sich dahinter ein kluger Trick, um Selbstheilreaktionen im Organismus auszulösen. Falls dem so wäre, dann wäre es von größter Bedeutung herauszufinden, wie sie das tut. Denn warum sehen wir solche Effekte dann nicht in anderen Therapien? Oder: wie könnten wir andere Therapien so gestalten, dass sie ebenfalls solche Selbstheileffekte auslösen? Das ist eigentlich die Gretchenfrage, die sich aus der Homöopathie ergibt. In der Zwischenzeit scheint die Homöopathie ein probates Mittel zu sein, solche Selbstheileffekte auszulösen.

Literatur

[1] Witt, C. M., Lüdtke, R., Baur, R., & Willich, S. N. (2005). Homeopathic medical practice: Long term results of a cohort study with 3981 patients. BMC Public Health, 5, 115. https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471-2458-5-115

[2] Witt, C. M., Lüdtke, R., & Willich, S. N. (2009). Homeopathic treatment of chronic headache (ICD-9: 784.0) – a prospective observational study with 2 year follow-up. Forschende Komplementärmedizin, 16, 227-235. https://www.karger.com/Article/Abstract/226770

[3] Schmidt, S. (2016). Shall We Really Do It Again?  The Powerful Concept of Replication Is Neglected in the Social Sciences. In A. E. Kazdin (Ed.), Methodological Issues and Strategies in Clinical Research (pp. 581–596). Washington, DC: American Psychological Association.

[4] Mathie, R. T., Lloyd, S. M., Legg, L. A., Clausen, J., Moss, S., Davidson, J. R., et al. (2014). Randomised placebo-controlled trials of individualised homoeopathic treatment: sytematic review and meta-analysis. Systematic Reviews, 3(142). https://systematicreviewsjournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/2046-4053-3-142

[5] Dantas, F., Fisher, P., Walach, H., Wieland, F., Rastogi, D. P., Texeira, H., et al. (2007). A systematic review of homeopathic pathogenetic trials published from 1945 to 1995. Homeopathy, 96, 4-16. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17227742

[6] Teut, M., Dahler, J., Hirschberg, U., Lüdtke, R., Albrecht, H., & Witt, C. M. (2013). Homeoapathic drug proving of Okoubaka aubrevilli: a randomised placebo-controlled trial. Trials, 14(96). https://trialsjournal.biomedcentral.com/articles/10.1186/1745-6215-14-96

[7] Teut, M., Dahler, J., Schnegg, C., & Provings, W. S. G. f. H. (2008). A homoeopathic proving of Galphimia glauca. Forschende Komplementärmedizin, 15, 211-217. https://www.karger.com/Article/Abstract/148825

[8] Möllinger, H., Schneider, R., Löffel, M., & Walach, H. (2004). A double-blind, randomized, homeopathic pathogenetic trial with healthy persons: Comparing two high potencies. Forschende Komplementärmedizin und Klassische Naturheilkunde, 11, 274-280. https://www.karger.com/Article/Abstract/82120

[9] Walach, H., Sherr, J., Schneider, R., Shabi, R., Bond, A., & Rieberer, G. (2004). Homeopathic proving symptoms: result of a local,non-local, or placebo process? A blinded, placebo-controlled pilot study. Homeopathy, 93, 179-185. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/15532695

[10] Möllinger, H., Schneider, R., & Walach, H. (2009). Homeopathic pathogenetic trials produce symptoms different from placebo. Forschende Komplementärmedizin, 16, 105-110. https://www.karger.com/Article/Abstract/209386

[11] Walach, H., Möllinger, H., Sherr, J., & Schneider, R. (2008). Homeopathic pathogenetic trials produce more specific than non-specific symptoms: Results from two double-blind placebo controlled trials. Journal of Psychopharmacology, 22, 543-552. http://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/0269881108091259

[12] Schmacke, N., Stamer, M., & Müller, V. (2014). Gehört, gesehen, und verstanden werden: Überlegungen zu den Lehren aus der Homöopathieforschung. Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 90(6), 251-255. https://www.online-zfa.de/article/gehoert-gesehen-und-verstanden-werden-ueberlegungen-zu-den-lehren-aus-der-homoeopathieforschung/originalarbeit-original-papers/y/m/1963

[13] Heintze, C., Metz, U., Hahn, D., Niewöhner, J., Schwantes, U., Wiesner, J., et al. (2010). Counseling overweight in primary care: An analysis of patient-physician encounters. Patient Education and Counseling, 80, 71-75. http://www.pec-journal.com/article/S0738-3991(09)00506-0/abstract

[14] Brien, S., Lachance, L., Prescott, P., McDermott, C., & Lewith, G. (2011). Homeopathy has clinical benefits in rheumatoid arthritis patients that are attributable to the consultation process but not the homeopathic remedy: a randomized controlled clinical trial. Rheumatology, 50, 1070-1082. https://academic.oup.com/rheumatology/article/50/6/1070/1785128

[15] Anick, D. J., & Ives, J. A. (2007). The silica hypothesis for homeopathy: physical chemistry. Homeopathy, 96, 189-195. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/17678816

[16] Schwanitz, H. J. (1983). Homöopathie und Brownianismus 1795-1844. Stuttgart, New York: Gustav-Fischer-Verlag.

[17] Walach, H. (1990). Die Untersuchung der Homöopathie durch das Reichsgesundheitsamt 1936 – 1939. Zeitschrift für Klassische Homöopathie, 34, 252-259. https://www.thieme-connect.com/products/ejournals/abstract/10.1055/s-2006-938396

[18] Scheible, K.-F. (1994). Hahnemann und die Cholera. Geschichtliche Betrachtung und kritische Wertung der homöopathischen Therapie im Vergleich zur konventionellen Behandlung. Heidelberg: Haug.

[19] Gaucher, C., Jeulin, D., Peycru, P., & Amengual, C. (1994). A double blind randomized placebo controlled study of cholera treatment with highly diluted and succussed solutions. British Homoeopathic Journal, 83, 132-134. http://www.homeopathyjournal.net/issue/S0007-0785(05)X8857-3

[20] Charette, G. (1985). Homöopathische Arzneimittellehre für die Praxis (4. Aufl. ed.). Stuttgart: Hippokrates. S. 85f.

[21] Mahesh, S., Mallappa, M., & Vithoulkas, G. (2017). Embryonal carcinoma with immature teratoma: A homeopathic case report. Complementary Medicine Research, online first(DOI: 10.1159/000481819). https://www.karger.com/Article/Abstract/481819

 

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Placebo ist die spezifischste Arznei

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Harald Walach

Wenn Ärzte, Pharmakologen und die meisten Menschen, das Wort „Placebo“ hören, dann schwingt die Bedeutung „ungeliebter Nebeneffekt“, „pharmakologisches Abfallprodukt“, „lästig aber unvermeidbar“,  und so manche andere Bedeutung mit. In der Debatte um die Homöopathie wird der Begriff meistens verwendet, um zu argumentieren, Homöopathie sei ja „nichts als“ Placebo und daher zwar vielleicht in gewisser Weise wirksam, aber nicht so, wie man das von modernen pharmakologischen Substanzen erwarten darf und daher auch kein Fall für die öffentlichen Kassen, sondern allenfalls ein Luxusprodukt für die Ewiggestrigen.

Ich will in diesem Blog die Perspektive umdrehen und zum einen zeigen, dass das eine wissenschaftlich gesehen altmodische Perspektive ist und zum anderen, dass Placebo eigentlich die allerspezifischste Arznei ist, die es gibt. Schräg, oder? Ja, stimmt, aber folgen Sie mir, dann werden Sie sehen warum.

Die Begriffsentstehung des Placebobegriffs [1]

Placebo ist ein Begriff, der medizinhistorisch als „Ersatz für die eigentliche Arznei“ konnotiert ist. Das kam daher, dass man im ausgehenden Mittelalter bezahlte Klageweiber die Totengesänge hat singen lassen, die bei der Totenwache üblicherweise gesungen wurden. Dazu gehört der Psalm 116 in dem die Sequenz vorkommt: „Placebo Domino in regione vivorum – ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden“.  So wie das „Singen der Placebos“ zum Sinnbild des Ersatzes für die eigentliche Totenklage wurde, so wurde auch das medizinische Placebo im 18. Jahrhundert zum Ersatz für die eigentliche Arznei. Den Ersatz wandte man dann an, wenn man entweder nichts Besseres hatte, oder den Patienten für einen Hypochonder hielt, der am besten mit einem  Alibiarzneimittel zu behandeln wäre statt mit einer der stark mit Nebenwirkungen behafteten damals üblichen Substanzen. Daher rangiert in der medizinischen Begriffshierarchie das Placebo ganz unten: Ersatz für das Echte, Beruhigung für die etwas Verrückten, Scheinarznei für die Psychofälle.

Placebo als pharmakologische Kontrollsubstanz

Von dort ist es nicht mehr weit zu der Einsicht, dass man im Rahmen eines verblindeten Versuches all die psychologischen Effekte kontrollieren könne, die im Rahmen einer Behandlung auftreten, wenn man – ohne Wissen des Patienten und idealerweise auch ohne Wissen des behandelnden Arztes – eine Leersubstanz, ein Placebo, verabreicht. Damit war der moderne Doppelblindversuch geboren, in Deutschland durch den Pharmakologen Martini installiert, in Amerika etwa zeitgleich eingeführt und in den „Cornell Conferences on Therapy“ der 40er Jahre für die pharmakologische Testung verpflichtend gemacht. In einer Untersuchung des Mesmerschen „Magnetisierens“ in Paris im Jahre 1784 hatte man gesehen, dass eine Patientin, die ihren Behandler sah in alle möglichen hypnotischen Verzückungszustände verfiel (siehe Abbildung 1; die Abbildung zeigt ein vergleichbares Phänomen aus späterer Zeit). Sobald man aber einen Vorhang zwischen Behandler und Patientin spannte, so dass diese nicht mehr sehen konnte, wann der Behandler seine magnetischen Striche und Bewegungen machte, waren die Anfälle nicht mehr auslösbar. Die „Verblindung“ war geboren. Denn man hatte die Macht der Suggestion erkannt. [2,3]

Abbildung 1: Beispiel einer hypnotischen Trance, wie sie in Paris durch Suggestion vom Psychiater und Hypnotiseur Charcot ausgelöst wurde. Die abgebildete Dame konnte sich in Hypnose versteifen wie ein Brett, so dass sie zwischen zwei Stühlen liegen konnte;
aus: Désiré Magloire Bourneville (1840-1909) & Paul Regnard (1850-1927), Iconographie photographique de la Salpêtrière. Service de M. Charcot (Paris: Adrien Delahaye & Co., 1876-1877, 1878). Verfügbar in Princeton, Graphic Arts Collection GAX 2012; https://www.princeton.edu/~graphicarts/2012/07/visual_psychology_and_jean-mar.html

 hypnotische Trance

Daher folgte: Wollte man die „reine“ Wirkung einer Substanz testen, dann musste man die psychologischen Effekte der Erwartung, der Suggestion, der Beeinflussung, des therapeutischen Rahmens ausschließen oder kontrollieren. Das geschieht eben in einem Doppelblindversuch mit Hilfe der Verblindung, die wiederum die Verabreichung eines Placebos erfordert, so dass Patient und behandelnde Personen denken, es ist eine echte Substanz verabreicht, die aber gar nicht enthalten ist. Damit kann man in der Kontrollgruppe die Effekte des natürlichen Krankheitsverlaufes, des Glaubens der Patienten, der Erwartung der Ärzte, alle Fehler, die durch unsaubere Messung entstehen und viele andere Effekte mehr abbilden. Subtrahiert man dann die Effekte in der Behandlungsgruppe von diesen, so hat man sozusagen den „Netto-Effekt“ der pharmakologischen Substanz oder den „wahren“, echten Therapie-Effekt. So geht, kurzgesagt, die Logik der modernen Doppelblindstudie, die Placebo als Kontrollsubstanz einsetzt.

Aus dieser Logik leitet sich auch die Idee ab, das Placebo sei so etwas wie der Abfalleimer der klinischen Forschung und daher wenig nützlich und nicht therapietauglich.

Das Kuriositätenkabinett der Placeboforschung

Aus diesen klinischen Studien und vielen Einzelbeobachtungen leiten sich auch viele Anekdoten und Einsichten ab, die zeigen, dass diese psychologischen Effekte – denn das sind im wesentlichen die therapeutischen Anteile des Placeboeffektes – alles andere als vernachlässigbar sind. Ich gebe eine kurze Inventarliste wieder.

Die Farbgebung spielt eine Rolle, wenn man gewisse Effekte erzielen will. Darum ist Viagra blau, denn im Englischen heißen Pornos „blue films“ und assoziieren „blau“ mit Sex. Markenaspirin mit Bayerkreuz wirkt stärker als generisches Aspirin ohne Label. Anekdoten erzählen davon, wie Patienten allein durch den Glauben aus schweren Zuständen herausfanden. Ein Klassiker ist immer noch die deutsche Studie von Rehder, der am Robert-Bosch-Krankenhaus einen Fernheiler untersuchen sollte [4]. Er wählte drei ziemlich hoffnungslose Fälle aus und sagte diesen Patientinnen, sie würden durch einen weltberühmten Heiler behandelt werden. Allerdings hatte der Heiler seine Behandlung schon abgeschlossen, ohne dass die Patientinnen das wussten und zwar ohne Effekt. Als die Patientinnen aber der Meinung waren, sie würden an jenem Tag behandelt und über Schriften und Informationen gebührend vorbereitet waren, besserte sich ihr Befinden schlagartig und zwar so, dass eine Patientin, die wegen eines schweren Gallensteinleidens bettlägerig war und operiert werden sollte, sich selber als geheilt entließ; ein Jahr später wurde sie doch operiert und man entfernte 52 Gallensteine.

Beecher, der Altmeister der Placeboforschung, stellte als Militärarzt im zweiten Weltkrieg fest, dass er mit Kochsalzinjektionen erstaunliche Erfolge erzielen konnte, als ihm das Morphium ausging. Interventionen funktionieren dann besser, wenn sie von enthusiastischen Behandlern angewandt werden. Und selbst wenn man Placebo ganz offen gibt, also mit der Information „Wir geben Ihnen hier mal etwas, das enthält zwar keinen Wirkstoff, hat aber schon vielen geholfen. Versuchen sie es, vielleicht hilft es Ihnen auch.“, kann es erstaunliche Effekte haben. In einer älteren klassischen Studie sahen Park und Covi deutliche Effekte bei Angstpatienten. [5] Und in neuerer Zeit hat Ted Kaptchuk diesen Ansatz repliziert, einmal an Patienten mit Reizdarm, einmal an Patienten mit Depression und einmal an Migränepatienten [6-8]. Die letzte Studie ist besonders interessant, weil es sich um eine Anwendung im Akutfall handelte und weil das offene Placebo gleichzeitig mit einem Placebo verglichen wurde, das als starke Migränearznei, einem Triptan, gekennzeichnet war, sowie mit derselben Migränearznei, die als Placebo falsch benannt war und der Migränearznei, die richtig gelabelt worden war. Das Interessante: Placebo ist selbst als offenes Placebo, also als solches bezeichnet, wirksamer als Nichtbehandlung, und die wirksame Migränearznei als Placebo etikettiert ist statistisch nicht von Placebo zu unterscheiden (Abbildung 2).

Abbildung 2 – Ergebnisdarstellung von Kam-Hansen et al [8]: Prozent der Patienten, die im Akutfall nach Intervention schmerzfrei waren. NT = Nichtbehandlung; Behandlung Placebo: es wurde Placebo verabreicht (blau); Behandlung Maxalt: es wurde ein wirksames Triptan verabreicht (rot); Labeling: die für Patienten sichtbare Bezeichnung war entweder Placebo (P), nicht deklariert (U), oder Maxalt; angegeben sind mittlere Verbesserungsraten und 95% Konfidenzintervalle; http://stm.sciencemag.org/content/6/218/218ra5

Kam-Hansen et al: Prozent der Patienten, die im Akutfall nach Intervention schmerzfrei waren

Das sind nur ein paar Kuriosa, die zeigen sollen: Placebo-Effekte sind alles andere als trivial. Sie können im Gegenteil sehr stark und klinisch bedeutsam sein. In Studien maskieren sie nicht selten die Effekte von starken pharmakologischen Substanzen, eben weil die Effekte der Psychologie so stark sind, dass sie die pharmakologischen Effekte sogar teilweise umkehren können.

Placebo-Effekte sind psychologische Effekte der Erwartung und des Lernens

Die Placeboforschung ist sich mittlerweile ziemlich einig: Im Placeboeffekt äußert sich unsere Psychologie und modifiziert pharmakologische Prozesse beträchtlich. Entweder, indem sie diese verstärkt, etwa durch Erwartung, oder konterkariert, wenn die Erwartung etwa falsch gesteuert wird durch eine unbeholfene Kommunikation, von der es allzu viele gibt; dann nennt man sie Nocebo-Effekte. Wenn etwa ein Operateur zu seinem Patienten sagt „Wir machen Sie jetzt fertig“ (und meint: Wir bereiten Sie für die Operation vor – so gehört von einer Kollegin vor ein paar Jahren), dann kann die unbewusste Botschaft (unser Unbewusstes hört „ich werde fertiggemacht“ im Sinne von „niedergemacht“) die pharmakologische Wirkung des Beruhigungsmittels zunichtemachen. Jedenfalls, in den Placeboeffekten zeigen sich die Effekte von Kommunikation, Erwartung, auch von Lernerfahrungen, kurzum, alles was unsere menschliche Psychologie so zu bieten hat. Wenn jemand im Laufe seines Lebens gute und heilsame Erfahrungen mit der Anwendung von Medikamenten gemacht hat, kann eben auch ein offenes Placebo über unbewusste Lernerfahrungen positive Effekte auslösen.

Placebo-Effekte zeigen sich auch in bildgebenden Verfahren

Dass diese Effekte nicht nur eingebildet sind oder das Ergebnis von Antwortverhalten netter Patienten, die es ihrem Doktor rechtmachen wollen, zeigte sich seit Anfang der 2000er Jahre in einer Reihe von bildgebenden Verfahren. Dabei werden entweder radioaktive Marker ins Blut gegeben, die dann den Effekt eines Neurotransmitters imitieren, oder es wird die Durchblutung bestimmter Gehirnareale gemessen, so dass man sieht, an welchen Stellen vermehrte oder verringerte Aktivität herrscht. So konnte man zeigen: die großen endogenen Netzwerke, etwa das endogene Opioidnetzwerk, oder das Dopaminnetzwerk sind an der Entstehung von Placebo-Effekten beteiligt. Bei Menschen, die auf schmerzlindernde Suggestionen mit einer Schmerzlinderung reagieren, sind exakt die gleichen Areale im Gehirn aktiv, die dann aktiviert werden, wenn man durch externe Opiatgabe pharmakologisch Schmerzen lindert. Bei Parkinsonpatienten, die auf Placebo reagieren, sind exakt die dopaminhaltigen Gehirnkerne aktiv und schütten Dopamin aus, die bei Gesunden ausreichend Dopamin produzieren würden. Wir können daher davon ausgehen, dass therapeutische Effekte, die durch Placebo ausgelöst werden, echt sind und in unserer Neurobiologie  verankert.

Entspannung führt zu Entzündungshemmung

Ein wichtiger Baustein im Verständnis der Placebowirkung ist der sog. „antiinflammatorische Reflex“ [9]. Er besteht in folgendem Phänomen: alle aktivierten Makrophagen, also die erste Linie in unserer unspezifischen Immunabwehr, haben aktivierte Rezeptoren für Acetylcholin auf ihrer Membran. Wenn nun irgendwo im Organismus eine Entzündung vorhanden ist – und die meisten chronischen Erkrankungen sind mit irgendwelchen Entzündungsprozessen verquickt – dann wird diese Entzündung u.a. durch solche aktivierten Makrophagen vermittelt. Wenn wir uns in einen vertieften Entspannungszustand begeben, dann wird durch die Aktivierung des Parasympathikus vermehrt Acetylcholin ausgeschieden. Dieses kann dann wiederum die Entzündungsreaktion der aktivierten Makrophagen bremsen, weil diese auf das Acetylcholin mit einer Reduktion ihrer Aktivität reagieren. Das ist der „antiinflammatorische Reflex“. Interessanterweise führt dieser Effekt natürlich nur dort zu einer Herabregulierung der Immunaktivität, wo eine Überaktivität vorher vorhanden war. Werden Patienten gut behandelt, fühlen sie sich wohl und erwarten Besserung, dann verlieren sie ihre Angst, Hoffnung kehrt ein und sie entspannen sich. Womöglich zum ersten Mal seit langer Zeit [10]. Und auf diese Weise kann der Placebo-Effekt direkt in die immunologisch vermittelte Entzündungssituation eingreifen [11].

Und wir sehen: der Placebo-Effekt wirkt offenbar über diese Achse spezifisch und zwar dort, wo Entzündung aktiv ist und nirgendwo sonst. Würden wir eine systemische Entzündungshemmung einführen, etwa durch eine Cortisonspritze oder eine stärkere Dosis Alkohol , dann würde dies zu einer Immunsuppression überall im Organismus führen und nicht nur dort, wo wir uns dies wünschen. Das ist auch der Grund, weswegen übermäßiger Alkoholkonsum mit Krankheiten assoziiert ist, bei denen das Immunsystem seiner Aufgabe nicht gut nachgekommen ist, wie etwa Krebs, oder warum Cortison auf lange Sicht Nebenwirkungen produziert. Placebo tut das nicht. Es führt allenfalls zu einer Regulation der Entzündungslage dort, wo es nötig ist, weil nur überaktivierte Makrophagen auf die Acetylcholinausschüttung reagieren können.

Spezifische Opioidantwort durch unspezifische Stimulation

Genauso ist es auch, wenn ein Placebo das endogene Schmerzreduktionssystem aktiviert, das dann von innen heraus Schmerzen reguliert. Unsere Schmerzen werden ja nicht nur an der Peripherie, durch Entzündungen, erzeugt, etwa wenn im Rahmen eines Knochenbruches Entzündungsmediatoren ins Gewebe ausgeschüttet werden, die für die Schmerzen an der Bruchstelle verantwortlich sind. Sie werden vor allem im chronischen Falle zentral „erzeugt“ indem die Impulse, die für die Weiterleitung von Schmerzen sorgen nicht mehr von denen kontrolliert werden, die für deren Blockade verantwortlich sind. Die letzteren sind jene durch Endorphine und Enkephaline, endogene opiatähnliche Substanzen, vermittelten schmerzhemmenden Impulse, die natürlich auch bei akuten Schmerzen und bei der akuten Schmerzstillung von Bedeutung sind. Man kann nun eine pharmakologische Schmerzblockade durch Opiate einführen. Dann übernehmen kurzfristig die von außen zugeführten Opiate die Arbeit der endogenen Opioide, die im Falle von Schmerzen nicht aktiv genug sind, um eine Schmerzblockade zu erreichen. Das ist ziemlich effektiv, wie wir wissen. Es führt aber auch zu Problemen. Denn zum einen machen Opiate schnell abhängig, weil sie eben die Eigenproduktion der Endorphine durch negatives Feedback drosseln. Zum anderen haben Opiate starke Nebenwirkungen. Denn es gibt kaum eine Zelle und kaum ein System im Organismus, das keine Opiatrezeptoren aufweist. Daher wirken Opiate nicht nur zentralnervös, sondern auch peripher, etwa im Darm, oder an Immunzellen. Das führt zu Verstopfung, Immunsuppression und vielen anderen Nebenwirkungen.

Was passiert aber, wenn der Organismus die nötigen Endorphine selber produziert? Dann wirken sie natürlich nur dort, wo der Organismus sie braucht, nämlich in den Schmerzzentren des Gehirns.  Eine Sucht aufgrund von Schmerzplacebos oder Verstopfung deswegen ist bislang noch nicht bekannt geworden.

Placebo – die spezifischste Arznei

Diese beiden Beispiele mögen genügen um zu zeigen: Placebo ist eigentlich spezifischer als die vermeintlich spezifische Opiat- oder Cortisongabe, um nur zwei Beispiele zu nennen. Denn: es erzeugt nur dort endogen ausgelöste Wirkungen, wo der Körper die Wirkung braucht und nicht überall im Körper, wie ansonsten alle pharmakologischen Substanzen, die von außen zugeführt werden. Diese Pauschalwirkung aller pharmakologischen Substanzen führt zu den Nebenwirkungen, die sich leider kaum vermeiden lassen und die den Preis der pharmakologischen Wirkungen darstellen. Daher sind paradoxerweise eigentlich Placebowirkungen die spezifischsten, denn sie erzeugen – wenn sie wirken – nur dort Wirkungen wo man sie braucht. Und sonst nirgendwo.

Daher wäre es eigentlich klüger, den Placeboeffekt als Selbstheilungseffekt zu deklarieren. Denn er ist der Reflex der Selbstheilfähigkeiten unseres Organismus. Und die klügste Therapie wäre die, die es schafft, diesen Selbstheileffekt auszulösen ohne Nebenwirkungen.

Placebo ist Selbstheilung

Offenkundig verfügt unser Organismus über die Fähigkeit, sich selber zu regenerieren. Aber anscheinend benötigen wir dazu Impulse von außen. Sich hinzusetzen und vorzunehmen „jetzt heil ich mich mal selber“ funktioniert selten, außer bei selbst-limitierenden akuten Krankheiten wie Infekten oder so. Manchmal, unter therapeutisch sehr guten Bedingungen, haben Imaginationsübungen solche Wirkungen [12]. Wir Menschen sind Beziehungswesen. Offenbar brauchen wir den Kontakt mit anderen, die Versicherung, dass jetzt alles gut wird. Daher sind in allen indigenen Heilritualen Spezialisten für Heilung vorhanden, Schamanen, Medizinmänner, in unserer Kultur Ärzte, die diese Selbstheilfunktionen aktivieren [10, 13]. Denn anscheinend ist die Beziehung zu anderen, denen man vertraut, eine wichtige Komponente. Aber nichtsdestotrotz ist das, was dann ausgelöst wird alles andere als ein unspezifischer Brei an Wirkungen. Es ist vielmehr die allerspezifischste Wirkung, die der Organismus bereit stellt. Denn sie führt nur dort zu Wirkungen, wo er sie braucht. Sonst nirgends. Und die größte therapeutische Kunst wäre es wie gesagt, solche Effekte auszulösen.

Möglicherweise ist Homöopathie in der Tat Placebo. Aber vielleicht ist sie genau solch ein Placebo: die Kunst, eine solche, sehr spezifische Selbstheilwirkung auszulösen. Ob das durch das Gespräch allein geht, oder ob man dazu auch die Kügelchen braucht wäre interessant zu untersuchen.

Literatur

[1] Ich habe die Originalliteratur und ausführlichere Argumente und Bezüge in folgenden Texten ausführlich zitiert; dort auch der Nachweis für die originalen Quellen, die ich hier der Kürze halber nur dort zitiere, wo ich direkt darauf Bezug nehme:

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