Teil 1 – Die Geschichte
Harald Walach
Viele meinen, Homöopathie hätte nur
einen Platz in der Behandlung einfacher oder funktioneller und chronischer
Erkrankungen. Blickt man in die Geschichte, dann sieht man, dass die
Homöopathie vor allem durch die Behandlung der epidemischen Erkrankungen
bekannt und erfolgreich wurde und auch manchmal prophylaktisch angewandt werden
kann.
Belladonna
und Scharlach bei Hahnemann
Bereits Hahnemann beschreibt in
seinem Organon [1, Anm. 64 zu §33, S. 180], dass er in Königslutter im
Jahre 1801 allen Kindern eine kleine Gabe Belladonna gegeben habe und
beobachtet habe, dass sie so vom grassierenden Scharlachfieber frei blieben. Weil
das Arzneimittelbild von Belladonna – der heiße rote Kopf, das meistens am
Abend oder späten Nachmittag rasch einsetzende hoher Fieber, oft auch gerötete
Haut und manchmal deliröse Zustände – relativ gut auf die Symptomatik von
klassischem Scharlach passt, war diese Anwendung aus Hahnemanns Sicht auch
arzneimitteltypisch. Daher finden sich bei den Indikationen für Belladonna in
den homöopathischen Arzneimittellehren typischerweise Scharlach und ähnliche
Fiebererkrankungen [2, 3].
Haehl schreibt dazu in seiner Hahnemann-Biografie, dass die Prävention mit
Belladonna doch so erfolgreich war, dass die preußischen Behörden auch noch bei
einer späteren Scharlach-Epidemie auf diese Prophylaxe zurückgriffen. [4]
Erfolge
bei Epidemien verschafften der Homöopathie Beachtung
Ursprünglich
waren es vor allem die Erfolge der Homöopathie bei der Bekämpfung der großen
Epidemien des 19. Jahrhunderts, die der Homöopathie Beachtung, Einfluss und
schließlich Akzeptanz verschafften. In Österreich, Russland und in England waren
es die Erfolge bei der Behandlung der Cholera-Epidemie, die die Homöopathie
dort Fuß fassen ließen. In Österreich war die Homöopathie 1819 verboten.
Trotzdem ließen sich manche behandeln, vor allem Adelige, aber auch andere. Der
Erfolg führte zur Aufhebung und des Verbots und zur Verbreitung der
Homöopathie.
Denn während normalerweise zwischen
60 und 70% starben – Zahlen für unbehandelte Verläufe in Russland sprechen von
67% und unter konventioneller Behandlung waren diese eher höher – starben unter
homöopathischer Behandlung 4-11% der Patienten [5, 6].
Auch in England lagen 1854 die Sterblichkeitsziffern unter homöopathischer
Behandlung weit unter 20% und waren damit deutlich niedriger als unter
konventioneller Behandlung [7].
Die
gefährliche konventionelle Behandlung
Woran
lag das? Die skeptische Sicht lautet: Weil konventionelle Behandlung gefährlich
war und die Homöopathen all die konventionellen Behandlungen ablehnten. Die
konventionelle Behandlung bestand im Aderlass und in der Verweigerung des
Wassers, weil man die Krankheit „austrocknen“ wollte. Die Homöopathen hingegen
gaben den Kranken Wasser ad libitum und verhinderten so die tödliche
Dehydrierung und unterließen den schwächenden Aderlass. Dazu gaben sie auch
noch ein paar Arzneimittel, meistens Campher und Arsenicum album.
Ob
diese Arzneimittel wirklich so effizient waren, weiß man nicht. Denn ein
neuerer Versuch in Peru, der diese ursprüngliche Behandlung überprüfen wollte,
zeigte keinen Unterschied zwischen Homöopathie und Placebo [8],
nachdem eine Pilotstudie vielversprechend war [9].
Im Moment ist also mindestens was die Cholera-Behandlung angeht unklar, ob die
homöopathischen Kügelchen zum Durchbruch geführt hatten oder die Vermeidung
schädlicher Maßnahmen.
Manches
an der homöopathischen Behandlungsweise war hilfreich
Allerdings gibt es auch historische
Daten zu anderen Infektionsepidemien, die anhand der Akten des homöopathischen
Krankenhauses in London zeigen, dass die homöopathische Behandlung von
epidemischen Erkrankungen wie etwa Diphterie oder Tuberkulose erfolgreicher war
als in den konventionellen Krankenhäusern [10].
Daher kann man vermuten, dass
manches an der homöopathischen Behandlungsweise hilfreich war. Diese frühen
Behandlungen fanden ja zu Zeiten statt, als oft nur vermutet wurde, dass
Bakterien die Erreger sind. Der Nachweis dazu gelang erst Koch in den 80er
Jahren des 19. Jahrhunderts [11].
Da für virale Krankheiten auch heute
noch oft keine gute Behandlungsmöglichkeit existiert und gegen Bakterien erst
in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Antibiotika verfügbar wurden, blieb die
Homöopathie lange Zeit eine wichtige therapeutische Möglichkeit. Vor allem bevor
es Impfungen für die gefährlichsten epidemischen Erkrankungen gab.
Die
„Spanische Grippe“
Für die große Grippe-Epidemie im
Jahre 1918, die weltweit wohl etwas über 20 Millionen Todesopfer forderte, gibt
es nur wenig gute Daten. Eine Statistik, die der amerikanische Professor für
Materia-Medica, Dewey, zusammengestellt hat, zeigt, dass die Sterblichkeitsrate
bei Patienten, die von Homöopathen behandelt wurden, relativ niedrig waren.
Eine Studie in Ohio an 24.000 Patienten, die konventionell versorgt wurden,
ergab eine Sterblichkeit von 28%. Die Mortalitätsrate der homöopathisch
versorgten Patienten lag je nach Region zwischen 0,01 und 1,05%. [nach 12]
Damals,
wie schon zu Hahnemanns Zeiten, wurde die Verordnung nach dem sog. „genius
epidemicus“, nach dem epidemischen Zustandsbild vorgenommen. Dieses Prinzip
beschreibt Hahnemann in den §§100-102 seines Organons [1]. Normalerweise wird
ja in der Homöopathie das Prinzip angewandt, dass das Arzneimittel passend zu
den individuellen Symptomen gewählt wird.
Epidemisches
Zustandsbild in den USA und Europa unterschiedlich
Im Falle einer epidemischen
Erkrankung geht man jedoch davon aus, dass das typische Arzneimittelbild vom
Typ der jeweiligen Epidemie bestimmt wird. Dieses Bild zeigt sich, wenn man
mehrere Kranke, die an der gleichen epidemischen Erkrankung leiden, vergleicht.
Bei der großen Influenza-Epidemie von 1918 war das in den USA in den
Anfangsphasen Erkrankung fast ausschließlich das Bild von Gelsemium, in
späteren Phasen, wenn etwa die Lunge betroffen war, kamen dann manchmal noch
Phosphor oder Bryonia hinzu. Gelsemium zeichnet sich aus durch dunkelrote
Gesichtsfarbe, starke Kopfschmerzen, manchmal auch Schmerzen hinter den Augen,
Halsschmerzen beim Schlucken, oft auch Schwindeligkeit und große Müdigkeit. Das
waren offenbar bei dieser Epidemie die zentralen Symptome und daher half
Gelsemium sehr gut [12].
Ein Bericht eines schwedischen
Arztes zeigt, dass dieses Symptomenbild in Europa offenbar etwas anders war. Er
berichtet über die Verwendung von Aconit und Belladonna, Bryonia, Rhus
toxicodendron, Ipecacuanha und Phosphor. Aber auch er schließt mit der
Beobachtung, dass unter seiner homöopathischen Behandlung niemand an
Lungenentzündung gestorben sei, sehr wohl aber im Umfeld unter anderen
Behandlungen [13].
Sjögren berichtet auch darüber, dass er manchmal zwei Arzneimittel im Wechsel
verwendete, was bei manchen akuten Verordnungen auch heute noch gemacht wird.
Wie
konnte Homöopathie bei akuten Infektionen wirken?
Wenn
wir in die Geschichte blicken sehen wir also: Homöopathie hatte immer schon
einen wichtigen Stellenwert in der Behandlung infektiöser, akuter Erkrankungen.
Darin war sie erfolgreich und so hat sie eigentlich auch ihren Ruf begründet.
Aber wie konnte das wirken? Doch sicher nicht durch eine direkte antibiotische
oder antivirale Aktivität?
Da wir keine gute Theorie der
Homöopathie haben, wissen wir es natürlich nicht. Aber es ist zu vermuten, dass
der Effekt vor allem daher kommt, dass die homöopathische Behandlung das
Immunsystem stimuliert und ihm hilft, die entsprechenden Reaktionen schneller
oder effizienter zu lancieren, oder vielleicht auch die Entzündung rechtzeitig
zu begrenzen, so dass der Erreger vom Immunsystem eliminiert wird, ohne dass
die begleitenden Entzündungsreaktionen den Organismus zu sehr belasten. [14]
Die Anhänger der Placebo-Theorie der Homöopathie [15]
können ja überlegen, ob ein Placebo-Modell – also Beruhigung, Entspannung,
positive Erwartungen – ausreichend sind, um den Erfolg einer Therapie im akuten
Infektionsfall zu erklären
Die
Rolle der Homöopathie bei akuten Infektionen heute
Daher dürfte Homöopathie auch heute noch in der Therapie akuter Infektionen eine Rolle spielen, vor allem dort, wo eine konventionelle Behandlung durch antibakterielle oder antivirale Arzneimittel nicht möglich ist, entweder weil es sie nicht gibt oder weil sie nicht (mehr) gut wirkt, z.B. wegen Resistenzbildung, oder weil wir, wie heutzutage mit dem neuartigen Corona-Virus, noch keine Behandlung oder gar eine Impfung zur Verfügung haben.
Eine
andere Rolle für die Homöopathie bei der Behandlung von Infektionskrankheiten
könnte etwa auch in den tropischen Ländern zu finden sein, wo sich verschiedene
virale Erkrankungen durch Insekten verbreiten, für die es keine guten
Behandlungsmöglichkeiten gibt. Aber auch in unseren Breiten gibt es immer
wieder Bedarf. Denn auch wenn antibiotische Behandlungen bei bakteriellen Erkrankungen
gut helfen, so besteht doch die Gefahr, dass Infekte immer wieder kommen, dass
Kinder anfälliger dafür werden, weil die Darmsymbiose gestört wird und vor
allem, weil bei kleinen Kindern die meisten Infekte viraler Natur sind.
Oft
sind es harmlose Rhino- oder bekannte Corona-Viren, gegen die man wenig machen
kann. Jedenfalls wissen wir, dass bei Kindern antibiotische Behandlung von
Atemwegsinfekten und Harnwegsinfekten langfristig relativ wenig fruchten [16, 17]
und dass antibiotische Behandlung mit anderen Problemen, wie späteren
entzündlichen Darmerkrankungen assoziiert sind [18].
Umgekehrt zeigen manche Studien,
dass homöopathische oder anthroposophische Therapien verglichen mit Antibiotika
gut abschneiden, manchmal sogar besser sind [19-23].
Dieses Feld gehört sorgfältig durch pragmatische randomisierte Studien
untersucht. Denn im Moment gibt es dazu nur sehr wenig gute Daten, die keine
endgültigen Schlüsse zulassen [24].
Fazit
Wir sehen an der Geschichte und an
der momentanen Praxiserfahrung: Homöopathie hat bei akuten Infekten, auch bei
schweren, durchaus einen Platz, wenn es keine konventionellen Optionen gibt
oder wenn diese aus anderen Gründen nicht angesagt sind. Wie sich
homöopathische Therapie von Infekten und eine mögliche Prophylaxe in neueren
Studien darstellt, besprechen wir im nächsten Teil dieser Serie. Möglicherweise
gibt es bald auch ein paar Erfahrungen mit der neuen Covid-19 Epidemie, die wir
dann im dritten Teil beschreiben.
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